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Der Chef des Raumhafens Terrania, Sharad Singh, wechselte alle dreißig Sekunden seine Haltung.
"Mann! Reißen Sie sich zusammen! Wenn Sie hier auf und ab zappeln, wird es auch nicht besser."
Singh zuckte bei den Worten zusammen und blickte nach links. Obwohl er das Gesicht des Mannes nicht zum ersten Mal betrachtete, verhalf ihm der Anblick dennoch zu einer Gänsehaut. Er hatte das Antlitz des zwei Meter Hünen bereits während der letzten zehn Minuten "genossen" und sich noch immer nicht daran gewöhnt. Hätte Singh gewußt, daß Lordadmiral Atlan den Terraner einmal als "wandelndes Skelett" bezeichnet hatte, er hätte verständnisvoll mit den Kopf genickt.
Das "Skelett" hieß mit Namen Ratber Tostan und war ehemaliger USO-Spezialist und Major. Bis zu jenem Tag des Jahres 3425 als er völlig durchdrehte und auf dem Planeten Lepso im Firing System landete. Dort pumpte er sich mit allen möglichen Drogen und Alkohol voll um dann quasi nebenbei ein Raumschiff der USO zu verspielen.
Irgendwann bemerkte Tostan, daß ihn die Drogen und der Alkohol schneller als es ihm lieb sein konnte, ins Grab bringen würden. Da er sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden wollte, begann er mit einer Entziehungskur. Einer der von ihm konsultierten Ärzte drückte Ratbers Chancen, die ganze Sache zu überstehen, am drastischsten aus:
"Tostan - ihre Chance betragen minus 50 Prozent."
Doch der Ex-USO-Major Ratber Tostan schaffte es, allen negativen Prognosen zum Trotz. Dafür durfte er jetzt wie der leibhaftige Sensenmann herumlaufen. Sein Hautgewebe schrumpfte während des Entzuges und spannte sich deswegen regelrecht über seine Knochen. Die Augen, die tief in den Höhlen lagen, verstärkten gemeinsam mit dem haarlosen Schädel den düsteren Anblick zusätzlich. Lippen waren so gut wie nicht mehr vorhanden und deshalb konnte man stets auf Tostans Zähne blicken.
Dennoch, oder vielleicht gerade wegen seines Aussehens zeigten die Worte des "Skeletts" beim Raumhafenchef Wirkung. Singh beruhigte sich zumindest äußerlich und wechselte seine Körperhaltung nur mehr alle zwei Minuten.
Beide richteten ihre Blicke wieder gegen den Himmel. Dort glitt eine der teuersten Privatjachten, die in der Milchstraße bis zum heutigen Tag produziert worden war, in Richtung Boden. In ihr befand sich einer der berühmtesten und reichsten Sänger der Galaxis, der Arkonide Mircot da Jilltras.
Das Skelett dachte kurz an seine Unterredung mit Atlan.
"Major Tostan. Wie geht es Ihnen?" fragte ihn der Lordadmiral mit einem listigen Funkeln in seinen Augen.
Der Major ließ einen hämischen Lacher los - beziehungsweise das Äquivalent dazu. Für einen Außenstehenden hätte es so geklungen als würden zwei Blechnäpfe aneinander gerieben. Auch seine Stimmbänder hatte durch den Entzug gelitten.
"Seitdem die USO nicht mehr nach mir fahndet und diese kleine Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Solaren Imperium gestrichen wurde, existiert eine Sorge weniger."
Atlan schüttelte belustigt den Kopf: "Kleine Zahlungsverpflichtung ist gut. Das waren über zwei Millionen Solar."
"Sagte ich doch."
Tostan hatte eine Korvette der USO auf Lepso verspielt und anschließend das Schiff mit den Gewinnern, Agenten des Imperiums Dabrifa, in die Luft gejagt.
"Major, kennen Sie da Jilltras?"
"Ja. Es ist in der heutigen Zeit geradezu eine Sache der Unmöglichkeit von dem noch nichts gehört zu haben. Hat ihn endlich jemand ins Reich der Toten befördert?"
"Nein. Sie können ihn wohl genau so wenig leiden wie ich, was?" folgerte der Arkonide.
"Exakt, Sir", bestätigte Tostan mit einem Kopfnicken. "Jemand der die Justiz und die Gerichte austrickst, indem er sich vom Vorwurf des wiederholten Kindesmißbrauch freikauft, ist mir mehr wie zuwider. Fünf Minuten in einem Raum mit dem und die Milchstraße hätte ein Problem weniger."
"Kann ich nachvollziehen. Allerdings sollten wir auch bedenken, daß jemand, der nicht gerichtlich verurteilt wurde, ein Unschuldiger ist", gab der Lordadmiral zu Bedenken und bezog sich damit auf die jahrtausende alte Tradition terranischer Rechtsprechung.
"Sie erwarten wohl keinen Kommentar darauf, Sir."
"Nein, ich rechne allerdings in den nächsten Minuten mit einem Wutausbruch ihrerseits."
Tostan blickte ihn fragend an. Atlan erwiderte den Blick und setzte fort:
"Der Botschafter von Arkon hat mich gestern per Hyperfunk angerufen und somit auf höchster diplomatischen Ebene interveniert. Da Jilltras kommt nach Terra, um ein Interview zu geben. Er will der Milchstraße seine Version der Geschichte über die Anschuldigungen zum Besten geben."
"Warum bleibt er nicht auf Arkon?" wollte Tostan wissen.
"Das dürfen Sie ihn selber fragen."
Tostans Augen wurden groß und wenn er noch in der Lage dazu gewesen wäre, er hätte die Augenbrauen hochgezogen.
"Wie bitte?"
"Sie wurden von ihm als persönlicher Sicherheitsbeauftragter angefordert. Über den arkonidischen Botschafter", fuhr Atlan fort.
"Der kann mich ..."
"Sie sind sicher nicht sein Typ", unterbrach ihn der Arkonide. "Ich habe dem Botschafter meine Bedenken bezüglich Ihrer Anstellung dargelegt. Der meinte nur, daß sich für zweihunderttausend Galax wohl Ihre Einstellung ändern würde."
Tostan versuchte einen Pfiff. Er mißlang ihm mangels Lippen.
"Zweihunderttausend Galax. Dafür muß ein alter Agent eine Menge Fälle knacken."
"Sie meinen wohl, dafür muß ein Falschspieler wie Sie eine ganze Menge Leute übers Ohr hauen", korrigierte Atlan feixend.
"Alles von Tekener gelernt, Sir", versuchte sich das Skelett mit einem Schulterzucken zu entschuldigen. "Wie kommt der überhaupt auf mich? Und außerdem, weshalb wendet der sich an Sie, Sir?"
"Sie wurden dem Sänger als bester Mann für solche Aufgaben genannt. Und außerdem haben wir Sie voriges Jahr von den intergalaktischen Fahndungslisten gestrichen. Daraus kann man seine Schlußfolgerungen ziehen."
Da die Jacht bereits auf dem Boden des Raumhafens stand, verdrängte Tostan die Gedanken an sein Gespräch mit Atlan. Er hatte seine persönliche Meinung über den Sänger in die hinterste Gehirnwindung abgeschoben. Der Terraner betrachtete das ganze einfach als Job. Obwohl - er wußte genau, wie er reagieren würde, wenn er durch diesen Job irgendwelche Beweise für diese spezielle Vorliebe des Sängers finden würde. Tostan setzte sich in Bewegung und ließ den Raumhafenchef hinter sich. Schnellen Schrittes ging er die Rampe zum Raumschiff hinauf. Dort wurde er vom Sicherheitschef des Sängers empfangen. Ratber verzichtete auf einen Händedruck, da es sich bei dem anderen um einen Ertruser handelte.
"Guten Tag. Mein Name ist Luv Zamp. Freut mich Sie kennenzulernen."
"Ja, ja. Schon gut. Ersparen Sie mir weitere Höflichkeiten. Wo ist dieser Sänger?"
"Der ist in seiner Lieblingskabine", erklärte der Ertruser, der sich sichtlich über die nicht durchgeführte Begrüßung seitens Tostan ärgerte.
"In seiner Lieblingskabine. Na so etwas," äffte Tostan den Tonfall des Ertrusers nach. "Stellen Sie mich ihm vor."
"Wie Sie wünschen, Mister Tostan", knurrte Zamp.
"Tostan reicht vollkommen."
Beide marschierten den langen, mit teuren Teppichen belegten Gang entlang und blieben schließlich vor einer Kabinentür stehen. Nach einem Klopfen traten beide ein.
"Ah, Mister Tostan. Ich freue mich ..."
Ratber Tostan unterbrach seinen Auftraggeber.
"Eines möchte ich gleich einmal klar stellen, Freundchen", erklärte er mit kalter Stimme. "Ich mag Ihre Musik nicht - und Sie kann ich seit der Geschichte mit den Kindern noch weniger leiden. Bis vor kurzem gab es keinen Grund, weshalb ich verhindern sollte, daß Sie einer abmurkst. Das wird sich für zwei Tage ändern. Danach werde ich mit Freuden applaudieren, wenn Ihre Todesmeldung in den News auftaucht. Der einzige Grund, weshalb ich hier stehe und den Babysitter für Sie spiele, ist, daß mich Lordadmiral Atlan darum ersucht hat. Und außerdem verbesserte die Überweisung meine Stimmung für einen Tag."
Da Jilltras setzte zu einer Entgegnung an, aber Tostan kam ihm zuvor.
"Ich bin noch nicht fertig. Wenn ich hier Kindermädchen spielen soll, dann muß eines absolut klar sein. Jeder der Bodyguards muß meine Befehle ohne zu hinterfragen sofort ausführen. Ich möchte keine Diskussionen über von mir gefällte Entscheidungen führen. Wenn die nicht akzeptiert werden, können Sie selber sehen, wie Sie weiter machen. Ist das klar?"
Der Sänger senkte den Blick und vermied somit den Augenkontakt mit dem Skelett. Dann gab er sich einen Ruck und erwiderte trotzig: "Denke schon. Allerdings sollten Sie nicht über die Moral anderer Leute urteilen, wenn Sie Ihre eigenen Wertvorstellungen für die Kleinigkeit von zweihunderttausend Scheinchen über Bord werfen."
Tostan lachte blechern und brachte damit seine Zahnprothesen noch besser zur Geltung. Nur er wußte, welche Waffen sich in dem künstlichen Gebiß verbargen.
"Ich habe meine Wertvorstellungen nicht vergessen. Zweihunderttausend Galax hindern mich nur daran, Sie auf der Stelle zusammenzuschlagen. Und außerdem, was wäre denn das für ein Bild, wenn der bekannteste arkonidische Sänger auf Terra durch einen Anschlag sterben würde. Gerade in der heutigen Zeit, wäre das sicher höchst unvorteilhaft."
"Da bin ich ganz Ihrer Meinung", stimmte ihm der Musiker kopfnickend zu.
Damit war für Ratber dieses Thema abgeschlossen.
"Gehen wir mit der Sicherheitscrew den Ablauf der nächsten zwei Tage durch", schlug er deshalb vor und drehte sich kurz zu Zamp um.
"Meine Leute können ab sofort das Gespräch überall an Bord mitverfolgen", meldete sich der Sicherheitschef auch prompt zu Wort.
"Alle mal herhören. Hier spricht Tostan. Ich will, daß wir diesen Auftritt schnellstmöglich hinter uns bringen. Ich möchte nämlich wieder zurück nach Lepso. Das Hotel wurde von mir bereits überprüft. Es ist sauber. Momentan hält sich außer den Sicherheitskräften nur der Hotelchef darin auf. Die Roboter wurden nach meinen Wünschen neu programmiert, und die Küche steht dem Koch zur freien Verfügung. Ich habe jeden Quadratzentimeter des Hotels abgesucht, abgesehen von den achtzehn Wanzen wurde ich nicht fündig."
"Wie? Im Royal gibt es Wanzen. Ich buche sofort um," stieß da Jilltras sichtlich schockiert hervor.
"Nein", beruhigte ihn Tostan, nicht ohne vorher die Augen zu verdrehen. "Ich sprach nicht von diesen niedlichen kleinen Tierchen. Ich meinte Abhörgeräte. Der Sicherheitsbeauftragte des Hotels hat vielleicht dumm ausgesehen, als ich sie ihm auf seinen Schreibtisch geknallt habe. Und vor allem mußte er erst durch meine Vergrößerungslinse blicken, um sie überhaupt zu entdecken."
"Der läßt die Gäste bespitzeln?" frage Mircot lauernd.
"Nein, die stammen allesamt vom Geheimdienst von Dabrifa. Vor zwei Jahren wurden im Hotel Wartungsarbeiten durchgeführt. So eine Gelegenheit lassen die sich nicht entgehen."
"Geheimdienst des Imperiums Dabrifa?"
"Mann!" Tostan verdrehte erneut seine Augen. Wenn er sich nicht innerlich an das bereits überwiesenen Honorar erinnert hätte, wäre er vermutlich schnurstracks aus dem Raumschiff marschiert. Trotzdem herrschte er da Jilltras an. "In welchem abgeschiedenen Sonnensystem leben Sie eigentlich. Egal, jedenfalls habe ich mir mit der Wanzenbeseitigungsaktion ein paar Feinde mehr zugelegt. Langsam wird es selbst für mich unübersichtlich."
Zamp gestattete sich ein Grinsen. Auch die meisten anderen anwesenden Bodyguards verzogen die Lippen.
"Weiter im Text", kam Tostan wieder auf das Ursprungsthema zurück. "Das oberste Stockwerk als Residenz ist gestrichen. Dort werden wir ein Robotdouble einquartieren. Da Jilltras kommt in den zwanzigsten Stock. Das Interview wird ebenfalls im Hotel stattfinden und zwar im vierunddreißigsten Stockwerk. Die Reporter werden auf Schritt und Tritt begleitet."
"Es ist allerdings eine Journalistin dabei", warf Zamp ein
"Und...", Tostan seufzte lautstark, "... und wo liegt das Problem?"
"Nun, Sie sagten auf Schritt und Tritt."
"Wenn die es nicht aushält, beim Pinkeln beobachtet zu werden, muß sie es sich halt verkneifen. Außerdem habt ihr weibliche Bodyguards."
Der Sicherheitschef verstand die Anspielung.
"Schön", bemerkte der Terraner und spielte den Erleichterten. "Nach dem wir jetzt die wichtigsten Punkte geklärt haben, wollen wir uns einmal auf den Weg zum Hotel machen - mittels Transmitter."
Tostan rematerialisierte als erster im Transmitter des Hotels. Sofort sah er nach links und nach rechts. Den Blick nach hinten konnte er sich ersparen - der Transmitter stand direkt an selbiger. Damit war von dort kein Gegner zu erwarten. Mit festem Schritt stieg er schließlich aus dem viereckigen Gebilde. Die rechte Hand griffbereit am Kolben seiner Waffe - genauso, wie er im Raumschiff in den Transmitter gestiegen war. Bei der Waffe handelte sich um einen Interkomb-Toser. Der Name traf die Wirkung auf den Punkt. Mit ihr verschoß man eine hülsenlose Kompaktmunition. Die Intensität der explodierenden Geschosse konnte je nach Notwendigkeit verstellt werden und der Maximalwert lag bei einigen hundert Kilogramm TNT. Den Schaden, den Tostan damit anrichten konnte, würde jedem Schadensreferenten einer Versicherung Schweißperlen auf die Stirn zaubern.
Das Skelett fixierte den Hoteldirektor und stufte ihn als harmlos ein. Danach blickte er auf seinen Scanner. In der Umgebung war alles sauber. Das bedeutet, daß sich außer den Sicherheitskräften niemand im Umkreis von zweihundert Meter aufhielt. Die Programmierung der hundert Hotelroboter hatte Tostan eigenhändig überprüft. Eine genaue Kontrolle der privaten Sicherheitsleute ließ die kurze Vorbereitungszeit nicht zu. Er mußte sich ungern aber doch auf die Aussagen von Zamp verlassen. Eine kleine Sicherheitsmaßnahme hatte der Terraner dennoch getroffen In seinem Gerät waren die Individualimpulse aller an der Aktion beteiligten Personen gespeichert. Hätte sich jemand eingeschlichen, der Scanner hätte sofort Alarm geschlagen. Da nur Tostan und Zamp von der Maßnahme wußte, hielt er einen Maulwurf für so gut wie ausgeschlossen.
Wenn den Ex-Major die Anwesenheit des Hotelchef irritierte, zeigte er es mit keinem Zucken im Gesicht. Der Manager, den Ratber von einem Holo her kannte, hatte bis auf sein Multifunktionsarmband keinerlei Technik am Körper. Der Scanner verriet Tostan ebenfalls, daß es sich dabei nicht um eine versteckte Waffe handelte. Ohne den Mann zu begrüßen, der ihn mit großen Augen anstarrte, herrschte er ihn an.
"Nein, ich bin nicht der Tod!"
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: "Zumindest im Moment nicht. Ich bin der Sicherheitsbeauftragte von Mircot da Jilltras. In welchem Stockwerk residiert er?"
Der Hotelchef stotterte, immer noch irritiert durch Tostans Erscheinung los:
"Äh, i...i..i ..."
"Und ich dachte die Stockwerke tragen immer Zahlen."
Durch diese sarkastische Meldung lenkte er den Geschäftsführer von seinem Äußeren ab und erhielt so die gewünschte Antwort:
"Er residiert in der obersten Etage."
"Genau wie es im Protokoll steht. Nächste Frage: Was treiben Sie eigentlich hier?"
"Wie bitte?" fragte der Hotelchef verständnislos.
"Sie haben mich genau verstanden", keifte Ratber zurück und sprach etwas in sein Mikrophonfeld, das sich vor seinem Mund kurz aufbaute.
"Ich bin der Geschäftsführer, und ich wollte da Jilltras persönlich begrüßen."
"Das können Sie vergessen. Verlassen Sie auf der Stelle das Hotel", verlangte Tostan.
"Aber..."
Der Hotelchef schwieg, als die Tür hinter ihm aufging und er in das Gesicht von zwei Ertrusern starrte. Wortlos wurde er an beiden Armen emporgehoben und in Richtung Empfangshalle getragen. Tostan ignorierte seine lautstarken Proteste und aktivierte erneut sein Mikrophonfeld
"Die Luft ist rein. Niemand außer unseren Leute ist jetzt im Gebäude. Schmeißt euch in den Transmitter."
Kurz danach materialisierten vier Bodyguards und dann der Sänger. Als nächstes waren wieder die Sicherheitsleute an der Reihe.
"Wir gehen jetzt direkt in den zwanzigsten Stock. Abmarsch!"
Im Dauerlauf ging es die Gänge des Hotels entlang. Der Musiker saß auf einer Antigravtrage und hielt so mühelos Tostans Tempo mit. Für die durchtrainierten Bodyguards stellte der Lauf auch keine Problem dar.
Im Zimmer angekommen erwartete Tostan eine Überraschung.
"Tostan, ich wollte Sie nur von einer kleinen Änderung des morgigen Programms informieren. Ich werde im Plazza Dome eine Autogrammstunde für meine Fans geben."
"Sie sind wohl wahnsinnig!? Wissen Sie nicht, welches Risiko Sie da eingehen?" sagte Tostan, sichtlich verärgert über den Einfall des Musikers.
"Dessen bin ich mir bewußt."
Tostans Blutdruck näherte sich langsam einer kritischen Marke.
"Gar nichts sind Sie sich", herrschte er deshalb auch Mircot an. "Das können Sie morgen ohne mich durchziehen. In mir finden Sie keinen Freund von solchen Änderungen in letzter Minute."
Tostan wußte genau wovon er sprach. Das Schlimmste für einen Sicherheitsmann war, wenn sich das zu schützende Objekt mitten in eine Menschenmenge wagte. Dort schüttelte er Hände und kam somit in unmittelbaren Kontakt mit den Menschen. Einen kleinen Thermostrahler versteckte man heutzutage in einer Kinderhand. Und ein Schuß konnte schnell ausgelöst werden. Dem sollte mit tragbaren, an der Kleidung befestigten Schutzschirmaggregaten vorgebeugt werden. Die Frage blieb letztendlich stets die selbe: Wer war schneller? Der Thermostrahl oder der sich aufbauende Schutzschirm?
Die nächste Steigerung stellte ein biologischer Angriff dar. Man konnte allerlei Viren mit einem Händedruck übertragen. Und gegen neu gezüchtete Krankheitserreger mußte meist erst in mühevoller Kleinarbeit ein Gegenmittel gefunden werden. Diese Zeit blieb den Infizierten selten. Und eine Autogrammstunde in einem großen Kaufhaus mitten in Terrania bedeutete jede Menge Menschen mit jeder Menge Schreibstifte, die man alle zu Waffen umfunktionieren konnte. Ganz zu schweigen von den Rucksäcken und ähnlichen Accessoires.
"Ich erhöhe Ihr Honorar", schlug der Arkonide zur Beruhigung der Lage vor.
"Das können Sie sich in die Haare schmieren. Für so ein Vorhaben benötige ich mehr Zeit. Und außerdem steht übermorgen bereits ein Geschäftstermin in meiner Kalenderdatei. Also, wenn Sie die Autogrammstunde halten wollen - fein, aber Sie müssen sich jemand anderen suchen, der für Ihre Unversehrtheit garantiert."
"Reden wir morgen darüber."
"Falsch! Für mich ist dieses Thema erledigt. Wann kommen diese Reporter?" fragte Tostan in Richtung des Sicherheitschefs.
"In ungefähr zwei Stunden", informierte ihn Zamp umgehend.
"Präziser geht es nicht, was?"
"Doch. 14:30 Uhr."
"Die werde ich höchstpersönlich vom Eingang abholen. In der Zwischenzeit entspannen wir uns alle und bleiben dennoch aufmerksam. Klar?!"
Von allen Anwesenden kam nur ein zustimmendes Gemurmel.
"Ja, laßt mich allein", verlangte der Musiker übergangslos.
"Zamp, Sie gehen vor in den Überwachungsraum. Ich mache noch einen Rundgang und werde Sie danach mit meiner Anwesenheit beehren" ordnete das Skelett an.
Eine halbe Stunde später saßen Zamp und Tostan gemeinsam vor einer ganzen Galerie von Holos. Sie zeigten sowohl Innen- als auch Außenaufnahmen des Hotels. Tostan blickte gelangweilt, aber dennoch voll konzentriert auf die Wiedergaben der Kameras. Sein Blick schweifte über jenes Bild, das den Raum des Sängers zeigte. Er saß in einem Sessel und sah sich gerade eine Wirtschaftssendung an.
"Ich muß mal austreten, Zamp."
Der Sicherheitschef nickte anstelle einer verbalen Antwort.
Als Tostan zurückkehrte, hatte sich das Holo nur unwesentlich verändert. Der Arkonide lümmelte in einem Sessel und blickte auf den Trivideoschirm.
"Irgend etwas stimmt nicht", dachte Tostan und überlegte, was ihn an dem Bild störte.
Dank seiner Fähigkeit Teile des Großhirns als Speicher zu gebrauchen rief er sich die Bilder ab, die er vor seinem Gang auf die Toilette gesehen hatte. Auf seiner Netzhaut entstanden die Holos von vorhin. Schlagartig erkannte er die Veränderung oder besser gesagt die sich nicht verändernde Uhrzeit. Das Holo gab wieder, daß sich da Jilltras eine Wirtschaftssendung ansah. Die Uhrzeit, die sich auf dem Trivideoschirm im Zimmer des Sängers befand, hatte sich seit geraumer Zeit nicht verändert.
Tostan blickte auf Zamp. Der schien diese Tatsache entweder nicht zu bemerken oder zu ignorieren.
"Ich mache einen Rundgang" teilte er dem Sicherheitschef mit.
"Schon wieder?"
Ohne zu antworten, verließ das Skelett den Raum. Auf dem Gang rief er sich den Bauplan des Hotels in das Gedächtnis. Es gab eine Notfallcomputeranlage, die ständig im Hintergrund mitlief. Dort mußte er hin.
Im Dauerlauf benötigte er nicht mehr als eine Minute. Er überwand innerhalb von dreißig Sekunden die Sicherheitsblockade des Hotelcomputers und erhielt dank Paßwort sofort Zugang zu den Überwachungskameras. Tostan hatte nicht alle Wanzen entfernt, die er im Zuge der Hotelüberprüfung gefunden hatte. Sie wurden von ihm umprogrammiert und mit der geheimen Notfallpositronik verbunden. Gekoppelt mit einem kompliziert verschlüsselten Codewort beschränkte er den Zugang ausschließlich auf seine Person.
Nach Überprüfen der Computeraufzeichnungen entdeckte er die Manipulation des Hauptcomputers.
Was sich im Zimmer des Sängers tatsächlich abspielte raubte ihm den Atem. Der Arkonide erfreute sich nicht an den gestiegenen terranischen Börsenkursen sondern lag nackt auf seinem Bett. Dort vergnügte er sich mit einem ungefähr zehnjährigen Jungen. Daß es sich bei dem Jungen um kein Roboterdouble handelte, konnte Tostan leider durch einen hinzugeschalteten Scanner ausschließen.
Für Ratber gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er stürmte in den Raum und verprügelte den Sänger oder er speiste die Bilder in die Kanäle der Nachrichtensender ein. An die zweihunderttausend Galax Honorar dachte er absolut nicht. Die hatte der Terraner bereits über die verschiedenen Konten seiner Mammon-Sekte verteilt. Nicht einmal NATHAN würde dieses Geld wiederfinden.
Für Tostan erreichte die zweite Variante mehr Effizienz als die Erste. Oder vielleicht ... Tostan überlegte kurz und entschied sich dann.
Er hantierte kurz an der Positronik und verwischte dann alle Spuren. Kurz blickte er noch einmal auf die Szenen am Bildschirm. Es widerte ihn derart an, daß er die linke Hand zur Faust ballte.
"Na warte, Feundchen", dachte er während er die Tür zur Notfallanlage sorgfältig verschloß und sich den nächstgelegenen Antigrav ins Gedächtnis rief, der ihn zu dem gewünschten Stockwerk bringen würde.
Während des Transport durch den Antigrav überlegte er, weshalb sein Scanner bei den fremden Individualimpulsen nicht angeschlagen hatte. Die Gehirnfrequenz des Jungen mußte sich folglich in der Datei befunden haben, die ihm Zamp überspielt hatte. In ihr waren alle Sicherheitsleute gespeichert. Auf seiner Netzhaut entstand das von Zamp gespeicherte Bild zu den Hirnimpulsen des Jungen: es handelte sich um einen Epsaler. Somit war für Tostan klar, daß der Sicherheitschef von den Vorlieben seines Chefs wußte.
Der Bodyguard neben dem Antigravschacht nickte ihm zu, bevor er paralysiert zu Boden glitt. Tostan war zuerst an ihm vorbei gegangen und hatte den Ahnungslosen dann nach einer blitzschnellen Drehung um die eigene Achse paralysiert. Da der Mann für die nächsten drei Stunden im Land der Träume weilen würde, machte sich Tostan nicht die Mühe, ihn zu entwaffnen.
Jetzt mußte er noch an den beiden Wächtern vor Mircots Tür vorbei.
Tostan steckte seine Zweitwaffe erst gar nicht ins Futteral unter seiner Achsel. Der Schalter der Spezialanfertigung, den er noch als Thermo- oder Desintegratorstrahler verwenden konnte, blieb im Paralysatormodus. Er lockerte noch seine wenigen verbliebenen Nackenmuskeln und stürmte dann um die Gangbiegung.
"Was ist los ihr Flaschen?! Habt ihr den Alarm nicht gehört?!" herrschte er die beiden Bodyguards an.
Beide zuckten zusammen und wollten ihre Waffen aus den Halftern reißen. Bevor ihre Hände nur annähernd am Kolben der Waffen angelangt waren, hatte sie Tostan bereits paralysiert.
Zufrieden über die Ausführung des ersten Teils seines Planes gestattete er sich ein Lächeln, obwohl es in seinem Fall nur ein seltsam anmutendes Verziehen des Mundes war. Jetzt konnte er den Zweitstrahler wegstecken. Dafür zog er seinen Interkomb-Toser und vergewisserte sich, daß er das leichteste Kaliber eingestellt hatte. Dann zog er den Abzug.
Fauchend entglitt die Minirak aus dem Lauf und zog eine Brennspur durch die Luft. Den unvermeidbaren Rückstoß fing das Skelett mit durchgefederten Beinen mit Leichtigkeit auf. Als die Minirak in die Tür einschlug hüllte sich Tostan bereits in seinen Individualschirm. So konnte er in aller Ruhe betrachten, wie Einzelteile der Tür in alle Richtungen davonflogen. Einige verglühte funkensprühend in seinem Schutzschirm.
Kurz nach der Explosion trat er durch die neue, verbreiterte Raumöffnung und fand den Arkoniden als wimmerndes Bündel in der linken Ecke des Raumes liegen. Tostans einzige Sorge galt dem Jungen, der zusammengekrümmt vor dem Nachtkästchen lag. Er vergewisserte sich, daß dem Kind außer ein paar Schürfwunden nichts passierte war. Dann widmete er sich seinem ehemaligen Auftraggeber.
Tostan bückte sich und zog ihn mit der linken Hand an den Haaren empor. So brachte das Skelett ihn in Höhe seiner Augen. Der Arkonide stöhnte und Tostan bemerkte, daß sich ein Türsplitter in einen Oberschenkel gebohrt hatte. Der Terraner überlegte kurz, ob er Druck auf den Splitter ausüben sollte, verwarf diesen Gedanken aber aufgrund seines Zeitplanes wieder. Tostan begnügte sich mit einem brutalen Schlag in den Magen des Arkoniden.
Wenn ihn der Terraner nicht an den Haaren weiterhin festgehalten hätte, wäre ihm Mircot wieder zusammengebrochen.
"Nein, bitte...", würgte der Sänger leise als einzige Reaktion hervor.
Tostan war jetzt ohne Empfindung und blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
"Doch", entgegnete er ihm und schlug ihm mit einem kurzen, dafür aber um so heftigeren Faustschlag ins Gesicht.
"Sei froh, daß lebst und genieße den Prozeß, du Schwein."
Mit diesen Worten und einem Handkantenschlag schickte er den Sänger endgültig ins Reich der Träume. Dann lief aus dem Zimmer und schoß mit dem Interkomb-Toser ein Loch in die Seitenwand des ehrwürdigen Hotels. Aus diesem sprang er aus einhundert Meter in die Tiefe. Nach einem dreißig Meter Fall schaltete er seinen Antigrav ein, den er ebenso wie seinen Schutzschirm immer an seinem speziellen Gürtel trug.
Noch während des Sprungs hörte er die lautstark auf und ab heulenden Polizeisirenen. Anerkennendes Nicken war die Folge. Da hatte der Verantwortliche bei der Polizei von Terrania Reaktionsschnelligkeit bewiesen.
Während er die beiden Bodyguards niedergestreckt hatte, hatte die Positronik Tostans Programm ausgeführt. Es wählte die Nummer des Terra News Networks, dem größten Sender im Solsystem und verlangte den Chef vom Dienst zu sprechen. Die Positronik registrierte kurz darauf eine Frau am Bildschirm.
"Sie können mich nicht sehen, da ich kein Interesse habe, daß Sie wissen, wer ich bin. Ich überspiele Ihnen jetzt eine interessante Aufnahme. An Ihrer Stelle würde ich sofort das Programm unterbrechen und eine Sensation ankündigen", erklärte ihr die Positronik mit verzehrter Stimme und täuschte so eine reale Person vor.
"Wer sind Sie?" wollte die Frau dennoch wissen.
"Bei diesen Bildern ist das garantiert gleich uninteressant für Sie", antwortete der Computer gemäß seiner Programmierung und sandte die ersten Bilder des Sängers, wie er sich mit dem Jungen vergnügte auf den Bildschirm der Frau.
"Mein Gott", entfuhr es ihr schockiert.
"Falsch. Ein Schimpfwort wäre angebrachter."
"Wie echt sind die Bilder?"
"Echter gehts nicht mehr. Kommen direkt aus dem Terrania Royal."
Die Programmverantwortliche reagierte wie Tostan es von einer Person auf diesem Posten erwartet hatte. Sie unterbrach innerhalb von zwei Minuten das laufende Programm und sendete die empfangenen Bilder. Da die Positronik keine Live-Bilder lieferte, wurde niemand Zeuge, wie Tostan den Sänger niederschlug.
Tostan landete in der nächsten Seitenstraße und registrierte, daß es sich bei den ausschwärmenden Polizisten um Spezialeinheiten handelte. Dann wandte er sich ab und verschwand im Gewühl der Menschen. Die Nachrichtensender hatten jedenfalls die Sensation des Tages. Auf jedem Kanal wurde irgend etwas darüber berichtet. Die terranische Justiz lag sich mit der Arkonidischen schon in den Haaren, wo der Fall zu verhandeln sei.
Da der angeheuerte Sicherheitschef nicht aufgegriffen werden konnte, spekulierte man, daß er die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte. Bilder von Tostans Vorgangsweise gab es jedoch nicht, da Tostan sich auch hier abgesichert hatte. Sowohl die Notfallanlage als auch die Hauptzentrale des Hotels wurden von zwei Bomben zerstört. Die Zünder hatten sich aktiviert, als die Polizei versuchte die Positroniken anzuzapfen. Das Hotel konnte noch rechtzeitig geräumt werden, so daß niemand zu Schaden kam.
Tostan selbst beantwortete keine der an ihn in dieser Sache gerichteten Fragen. Nur Lordadmiral Atlan gegenüber meinte er, daß er damals wirklich der beste Mann für die Aufgabenstellung des Sängers gewesen wäre.